Ein paar Tage bleiben uns noch. Ein schneller Wechsel der Elemente, vom Wasser in die Lüfte und schon wieder festen Boden unter den Füßen. Vom Flughafen Mexiko Citys schlängeln wir uns mit dem Mietauto durch den Verkehr und über Kreuzungen, von denen man glauben könnte, sie niemals heil überqueren zu können, auf die Schnellstraße nach Puebla, einer den schönsten Kolonialstädte Mexikos.
Da waren wir schon mal, vor fast genau neun Jahren. Damals haben wir die Route über den Vulkan Popocatepetl genommen, bis hinauf auf 3600 Meter, sein majestätisches Haupt trägt er fast 5500 m hoch, nebelverschleiert und von eisigem Wind umweht. Etwas von seiner Vulkanasche habe ich zu Hause in einem Glas verwahrt. Eigentlich gab es damals auf der anderen Seite keinen Weg hinunter, ja, eine holprigen Staubstraße würde es schon geben, da hinten vorbei, die Bodenplatte müsste hoch genug sein, meinte ein Stationswärter, nachdem er unser Auto gemustert hatte. Vom Umkehren halten wir ja nicht viel … hätten wir gewusst, wie der Weg aussieht, hätten wir es wahrscheinlich getan. So ist er uns in waghalsigen Kurven, steil abfallend, mit seinen Steinen, riesigen Schlaglöchern, Furchen und schlammigen Wasserbetten und einem Schmunzeln auf den Lippen unvergesslich in Erinnerung geblieben. Und so hat die Liebe zu diesem Land begonnen.
Heute, 9 Jahre später, lassen wir uns wieder von den warmen Farben in rot, grün, blau, lila, gelb, orange und allen Tönen dazwischen verzaubern, uns durch die Gassen von Puebla treiben, in denen es nach kalter Luft und Rauch, nach Churros und Tacos riecht, wo die Fassaden mit Talavera-Fliesen und schmiedeeisernen Fenstersimsen verziert sind und urige Kaffeehäuser ihre duftenden Fangarme nach uns austrecken. Wir schlafen in einem Haus, das 1640 zu einem Nonnenkloster gehörte und vor vier Jahren von seinem neuen Besitzer, einem Architekten, zum Hotel umgewidmet wurde – ein Kleinod voller Sammlerstücke, mit Holztramdecken, verzierten Bodenfliesen, einer alten Holzbar in graublau, an den Wänden alte Werbeschilder und Tabletts aus Metall, verbeulte Blasinstrumente und bunte Flaschen. Zum Sonnenaufgang klettere ich zitternd vor Kälte auf die Terrasse, ich will den Popokatepetl in der Morgensonne sehen – vor zwei Wochen hat er Feuer gespien, jetzt sieht man ab und zu noch Rauchsäulen aufsteigen! Wir sind nicht weit vom arkadengesäumten Zokalo, dem Hauptplatz mit der goldschweren Kathedrale, die mit einem freistehenden zentralen Altar der Könige den 14 Seitenkapellen und einer gigantischen Orgel ein sehr originelles Kirchenschiff zeichnet. Die Basilika ist so angefüllt mit christlichen Kultgegenständen, dass es schon fast an eine Rumpelkammer erinnert.
Puebla ist faszinierend. Und ihre Umgebung genauso. Eine halben Fahrtstunde entfernt liegt Cholula, es ist mit Puebla zusammengewachsen und verspricht ein besonderes Erlebnis – die unsichtbare Pyramide von Cholula. Im Laufe der Jahrhunderte verbarg sie sich unter einer grünen Ummantelung und bereits Cortez hat nichts als einen bewachsenen Hügel vorgefunden, auf dem er, ohne zu ahnen, dass sich darunter eine heidnische Kultstätte befand, eine Kirche errichten ließ, die schönste und größte von etwa 30 anderen, die er aus Dankbarkeit für den errungenen Sieg gestiftet hat – er war aus den Reihen des Feindes gewarnt worden.
Jetzt liegt sie unter uns, die größte Pyramide der Welt! Gerade eben sind wir durch ihr Inneres gekrochen, die Gänge entlang, die Archäologen angelegt haben, ganze 8 km – nur 800 m davon dem gewöhnlichen Volk zugänglich gemacht – aber genug, um einen unvergesslichen Eindruck zu hinterlassen. Schwach beleuchtet, nach links und rechts ausgegraben, manche Gänge führen über steile Stufen nach unten, andere nach oben, ohne das Ende ausmachen zu können, doch ist der Grundriss der Pyramide klar erkennbar. Man hat in ihrem Inneren Wandmalereien gefunden, die an die ägyptischen Fresken erinnern, in ihren Abstraktionen aber ebenso von Picasso stammen könnten, die Gesichter und Körper gleichsam nur angedeutet, wie die Geschichten, die sie erzählen.
Von dort oben, von der Ummauerung der gelben Basilika, blicke ich auf die Stadt Cholula, eingeschmiegt in die Ebene des Popocatepetl, und ich denke an all die Städte, auf die ich im vergangenen Jahr auf ähnliche Weise herabgeblickt habe – das biblische Jerusalem, das überraschend weiße Paris, das einem Märchen entstiegene Prag, das sich aus dem Nebel lösende Lissabon, das malerische San Miguel de Allende, Puerto Vallarta in der untergehende Sonne… Jede Stadt hat ihren einzigartigen Charme und Charakter, unverwechselbar und einzigartig in ihrer Bauart, mit ihren Wahrzeichen und Eigentümlichkeiten – sind sie nicht wie Frauen in ihren prächtigen Gewändern, mit einem ihre Persönlichkeit unterstreichendem Duft, sich stolz im Spiegel der Sonnenstrahlen betrachtend und ihre Pracht zu Schau tragend? Und will man etwas über ihre Seele und ihren Werdegang erfahren, muss man sich ganz auf sie einlassen. In meiner Erinnerung reihen sich die Bilder aneinander, überlagern sich, verbinden sich miteinander und bilden ein großes weites Netz – zwischen ihnen weitet sich mein Geist, als wollte er Welten umspannen, in ihre Vergangenheit dringen, den Geschichten lauschen, die sie erzählen und mit ihnen verschmelzen. In mir wird es weit und ich begreife, ich bin Teil davon, Teil einer lebendigen Welt, die auch Teil von mir ist und in mir lebt, durch mich hindurch in die Zukunft hinein.
Zurück kehrt mein Geist auf den Hügel von Cholula, wandert zwischen den bunt bemalten Häusern zu den feurig roten Blüten auf den kahlen Ästen des Korallen-Baums, ins Innere der Pyramide, versucht, das Leben, Denken und Fühlen der Menschen zu erahnen, die hier den Göttern gehuldigt haben, gegeneinander gekämpft und gesiegt haben, verraten, besiegt und ausgelöscht worden waren. Der immer noch aktive Popo, wie er liebevoll von den Einheimischen genannt wird, zeugt von Zeiten, in denen es noch keine Menschen, keine Tiere und keine Pflanzen gab. Vor gerade erst einer Woche ist er wieder ausgebrochen und hat für ein ungewöhnliches Erkalten des Klimas gesorgt, die Menschen sind immer noch in Alarmbereitschaft, sie leben mit ihm in einer Art symbiotischer Verbundenheit, horchend auf seine trügerische Stille wie auf sein Rumoren, das man unter den Füßen spürt, wenn er Funken, Feuer und Asche sprüht – was er in regelmäßigen Abständen immer noch tut.
Den Abend lassen wir im Künstlerviertel von Puebla, in dem farbenprächtig bemalte Keramiktöpfe, -teller, -butterdosen, -vasen und -totenköpfe im Talaverastil ausgestellt und verkauft werden
, Maler vor ihren Staffeleien sitzen und Gitarrenmusik aus den vielen Bars und Nachtlokalen dringt, bei feinem Tequila mit Salz und Limonen ausklingen.Wir haben noch lange nicht alle Pyramiden gesehen, obwohl wir bei unserem ersten Besuch an die zwanzig verschiedene Stätten besucht haben. Jede ist anders, mal freistehend, auf hohen Plateaus gelegen, verborgen im Urwald, oder wie ein großer Park zu begehen. Cacaxtla und Xochitécatl wurden erst 1970 entdeckt. Hoch in die Berghänge gegraben, von drei Vulkanen umgeben liegen sie zwar nahe beieinander, doch zeugen sie von zwei verschiedenen Kulturen. Ursprünglich beide vor etwa 2000 Jahren von den Olteken errichtet, wurde Cacaxtla etwa 600 PD von den Mayas erobert. Von diesem Kampf zeugen in dieser Form einzigartige, flächendeckende Wandmalereien in intensiven Farben, die aus Kakteen, Blüten und Erden gewonnen und mit einem Kakteensaft- und Eiweißgemisch haltbar gemacht wurden, sodass sie an die 1200 Jahre überdauerten. An den Symbolen ist die Kultur der Maya zu erkennen, unter anderem an den charakteristischen Kopfdeformationen, die an Menschen in hochstehenden Positionen wie zum Beispiel Priestern vorgenommen wurden, um die beiden Gehirnhälften und die Gehirndrüsen einander anzunähern; auf diese Weise sollten sie Hellsichtigkeit erlangen. An den beiden Stätten wurde dem Regengott Tlaloc und dem Fruchtbarkeitskult gehuldigt; um ihn, Tlaloc, günstig zu stimmen, opferte man ihm das Beste, was der Mensch zu bieten hatte – Kleinkinder mit einem Haarwirbel am Kopf – ein Symbol der Fruchtbarkeit. Man hat an die 200 Skelette gefunden.
Beim Besteigen der Pyramide verletzt sich Herbert, eine kleine aber tiefe Wunde, unter seinem Hosenbein sickert Blut hervor – als würde Tlaloc heute noch sein Blutopfer fordern! Und so machen wir Bekanntschaft mit dem mexikanischen Gesundheitswesen. Vor allem eine Tetanusimpfung war wichtig, aber gar nicht so einfach zu bekommen. Erst das dritte Krankenhaus hatte den Impfstoff vorrätig – dafür ging es dann unbürokratisch, kostenfrei und schnell. Die Wunde versorgen konnten sie dort aber nicht – dazu musste Herbert erst in ein ‚medizinisches Zentrum‘ humpeln, und mangels Lokalanästhetikum in ein weiteres, denn die Ärztin hatte, nachdem sie einen kurzen Blick auf die Wunde warf, entschieden – das muss genäht werden!
Diese ,medizinischen Zentren‘ sind großzügig mitten im Straßengewirr der Städte verteilt und stehen niederschwellig jedem zur Verfügung. Sie sind klein, mit nur einer Ärztin oder Arzt besetzt, die mit den verfügbaren Mitteln um die Erstversorgung bemüht sind. Der ganze Eingriff hat uns knapp 200 Pesos Konsultationsentgelt und 100 Pesos Trinkgeld gekostet, umgerechnet 10 € – doch die arme Bevölkerung kann sich oft nicht einmal diese leisten, und die Krankenversorgung bleibt ihnen nicht selten verwehrt. Wer hingegen Geld hat, hat Zugang zur erstklassigen Behandlung, die von den Amerikanern mit Vorliebe in Anspruch genommen wird.
Erst am nächsten Tag können wir uns dem Charme des eher unscheinbaren Tlaxcala überlassen und genießen die entspannte Atmosphäre am Zocalo, der uns in mit seinen hohen schattenspendenden Bäumen und den flinken Eichhörnchen, wie sie mit dem Tauben um die Wette nach den Leckerbissen aus den am Baumstamm befestigten Blechdosen fischen, besonders gefällt.
Und schon ruft die Silberstadt Taxco nach uns, die für ihre Silberschmiedekunst weltberühmt ist.
Beeindruckende Landschaften brausen an uns vorbei – rote Erde, ausgetrocknete Flussbetten, windschiefe Indio-Raststätten, echte Westernreiter, riesige Kakteengebilde, steinige Graslandschaften und dunkles, bizarres vulkanisches Gebirge wechseln sich ab mit wie aus dem Nichts auftretenden tiefen Schlaglöchern und riesigen Lastwagenbrummern, die mit ihren Rundungen und silberglänzenden Verzierungen wie Gesichter anmuten, Pritschenwagen, die so abenteuerlich beladen sind, dass man fürchten muss, unter halbherzig befestigten Möbeln, Blechwänden, Zuckerrohr, halbtoten Hühnern oder Obstbergen begraben zu werden. Zuckerrohrplantagen und hohe Temperaturen verraten, dass wir uns wieder tief in der Ebene nahe der Meereshöhe befinden, Taxco aber liegt hoch oben im Gebirge auf 1800m, zu dem wir uns gleich darauf über Serpentinen hochschwingen und mit grandiosen Talpanoramen belohnt werden. Plötzlich öffnet sich der Blick auf Taxco, die allesamt weiß getünchten Häuser, die etwas Verwittertes an sich haben, wirken wie an die Felswand geklebte Taubennester, durch enge steil ansteigende und abfallende Gassen schlängeln wir uns regelrecht bis zu unserem Hotel durch – ich klebe mit der Nase fast an der Windschutzscheibe, um ja nichts zu versäumen. Hier haben seit Jahrhunderten Minenarbeiter gelebt und gearbeitet und ich meine ihre Gegenwart zu spüren. Es stört mich nicht, dass jedes zweite Geschäft Silberschmuck verkauft, dass durch die verwinkelten Straßen unglaublich viele VW-Käfer-Taxis Einheimische und Touristen auf und ab befördern und in den unwegsamen Kurven reversieren müssen, um sie passieren zu können. Die Stadt lebt von Silberliebhabern und Touristen, aber die Preise sind günstig und die Menschen unaufdringlich. Für Stunden verfalle ich dem Bann des hellen Silberscheins und lasse mich einfach treiben. Der Abend taucht die Stadt in Gold.
Wehmut, Freude und Sehnsucht nach beiden Welten, in denen wir nun schon seit Jahren leben, begleiten uns auf dem Weg zurück – zurück wohin?